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BLOG vom: 13.08.2021

Peter Meier-Abt (1947 – 2021) – Arzt und medizinische Geistesgrösse aus dem Aargau

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU

 


Prof. Dr. Peter Meier-Abt
 

In Zürichs Universitätsspital verschied Ende Mai eine der bestanerkannten Arzt-Persönlichkeiten der Schweiz: Prof. Dr. Peter Meier-Abt, geboren und aufgewachsen in Lengnau AG, Ehemaliger der Kantonsschule Baden AG, war ein mehrfach preisgekrönter Pionier der Pharmakologie und Toxikologie, Präsident der Schweiz. Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und ein profilierter strategischer Denker der Schweizer Forschungsszene. Die Abdankung des bedeutenden Strategen der medizinischen Forschung erfolgt gemäss Todesanzeige am 27. August 2021 in der Jesuitenkirche Luzern. 

 «Ich schramme nahe am Abgrund vorbei», schrieb mir einer der Schweizer Meister der Inneren Medizin (Spezialarzt seit 1981) vor einigen Monaten. Eine der härtesten Diagnosen seines Lebens stellte er sich selber aus: «Primäre Myelofibrose» = verminderte Blutbildung im Knochenmark), was einer akuten Myeloischen Leukämie gleichkam. Dagegen war mit einer Knochenmark-Transplantation vielleicht anzukommen. Es hat aber nicht sollen sein, der Körper wollte es nicht akzeptieren. Eine letzte, die eigene Existenz betreffende Verfügung des Präsidenten von Zürichs Ethik-Kommission, gemäss seinem Bruder René bewusst vorgenommen, betraf das Einstellen lebensverlängernder Massnahmen.  Am 27. Mai war für Peter J. Meier ausgelitten. Für den Verfasser dieses Nachrufes bedeutete er mehr, als seine Titel, prominenten Mitgliedschaften und auch internationalen Auszeichnungen mit Forschungspreisen ausdrücken können. In der Galerie bedeutender Wissenschaftler der Schweiz gehörte er zu denjenigen, die über hervorragende Eigenleistungen hinaus fachübergreifende Orientierungen zu setzen wussten. Dies ist umso beeindruckender, als ihm sein weit über Diplome hinausreichender Bildungsweg keineswegs an der Wiege gesungen wurde.  

 

Lengnau: Früher Tod des Vaters

Als ältester der drei Söhne des Ehepaars Alice und Alois Meier verlor er seinen Vater als siebenjähriger Erstklässler: Bei einem Schützenfest in Schneisingen erlitt der hoch angesehene, in Lengnau wirkende Sekundarlehrer einen Herzstillstand.  Peters Bruder Marcel, geboren 1950, (1992 Opfer eines Bergunfall), ein nachmalig international bekannter Musiker, war erst vier Jahre alt, der überlebende Bruder René (Bezirkslehrer, heute in Richterswil ZH) sogar erst zweieinhalbjährig. Bewundernswert bleibt die Erziehungsleistung der (nicht wiederverheirateten) Witwe Alice (verstorben 2000) für die drei Buben.

An der Bezirksschule Endingen (1959 – 1963) fiel Peter an der Seite eines hier nicht genannt sein wollenden Lengnauer Weggefährten auf Anhieb durch schlechthin perfekte Heftführung (bei Geographielehrer Dr. Gregor Burkhard) auf: Nicht Strebertum war es, was die beiden «Musterschüler» leitete, sondern Ausdruck eines grafisch optimal auszudrückenden Verständnisses der Alpenfaltung. Auch mit der Violine und am Klavier war er ähnlich begabt wie spätere Musiker unter seinen Kollegen. Die Vielseitigkeit des Hochbegabten war phänomenal. Als Lateiner beim damals vorzüglichsten Sprachlehrer Dr. Ernst Kaufmann war und blieb der Lengnauer bis zum Abschluss der Bezirksschule schlicht perfekt. Und an der Wandtafel bei Fridolin Ehrensperger konnte ihm in Sachen Geometrie in einer sehr starken Klasse nur gerade noch eine Müllerstochter aus Würenlingen Paroli bieten, die spätere ETH-Professorin Silvia Dorn-Mühlebach. Die beiden absolvierten dann gemeinsam die Kantonsschule Baden: in Sachen hochkotierter internationaler Auszeichnungen bis heute wohl nur durch Nobelpreisträger der Kantonsschule Aarau überboten.

 

«Ein philosophischer Kopf»

Eingedenk seiner Herkunft war und blieb Peter Meier lebenslang das Gegenteil eines Wichtigtuers. Bei Klassenzusammenkünften war der Vielbeschäftigte zwar nicht selten entweder entschuldigt oder musste früher weg -  nicht ohne präzise Empfehlungen für das richtige Mass beim Alkoholkonsum. Doch war er damals noch längst nicht Präsident der wichtigsten Ethik-Kommission der Schweiz, nämlich derjenigen des Kantons Zürich. Die Eignung gerade für eine solche Funktion ergab sich nicht bloss aus seiner Karriere als Spitzenmediziner. Er war, was nicht für alle tüchtigen Wissenschaftler zutrifft, im Sinne Schillers «ein philosophischer Kopf» mit klarer Orientierung und der Fähigkeit, heikle Probleme präzis auf den Punkt zu bringen. Über sein vor Jahresfrist gehaltenes Quasi-Vermächtnisreferat an einer Tagung in Zürich zum Thema «Grenzen der Medizin» urteilte der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser: «Umsichtig, luzide und informativ, so stelle ich mir Wissenschaftskommunikation im Idealfall vor».

 

Einstellung zu Leben und Sterben

Die wissenschaftliche Einstellung zu Leben und Sterben hielt den ethisch orientierten Denker von elementaren Überlegungen nicht ab: «Natürlich beschäftigt man sich bei einer solchen Krankheitsgeschichte verstärkt mit dem Tod. Man konzentriert sich auf sich selbst, zieht sich von unnötigen Aktivitäten zurück, bereitet seinen Nachlass vor, schreibt seine letzten Wünsche auf etc. Und nach einer anfänglichen Traurigkeit/Depression wird man ruhig und ungemein dankbar, dass man ein langes krankheitsfreies Leben hat führen dürfen.» So viel zu Peter Meiers Ausführungen zu Leben und Tod, die von differenziertem Nachdenken nicht nur über die Grenzen der Wissenschaft begleitet waren; mit theologischen oder gar esoterischen Vorstellungen setzte er sich erst recht kritisch auseinander: «Die vielen publizierten Nahtoderfahrungen», betonte er, «können durchaus neurophysiologisch erklärt werden.»

Der Begriff des Skeptikers hat wegen dem Streit um die Corona-Massnahmen in jüngster Zeit einen negativen, um nicht zu sagen sektiererischen Beigeschmack erhalten. Weder blosse Rechthaberei noch Misstrauen aus Prinzip machen uns klüger. Einem unbeschränkten Glauben an den Fortschritt folgte eine Fortschrittsverdrossenheit.  Peter Meier diagnostizierte diesbezüglich einen «Erinnerungsverlust», so rückblickend auf Verhältnisse im frühen 20. Jahrhundert, als die Überlebenschancen, z.B. bei der «spanischen» Grippe mit dem Virus A/H1N1, zu überleben, weit geringer waren als dies bei heutigen Verhältnissen zu befürchten ist.
  
Auf der anderen Seite verhehlte Prof. Meier-Abt nicht, dass mindestens 50 Prozent des heutigen Forschungswissens als objektiv ungesichert gelten könne, weil über den Einzelfall hinaus nicht reproduzierbar. In diesem Zusammenhang wurde die Frage nach dem anscheinend «nutzlosen Wissen» aufgeworfen. Peter Meier stellte sich auch der verwirrenden Unübersichtlichkeit bei jährlich 340 000 bis einer Million Forschungspublikationen.

 

«Grenznutzen» des Fortschritts

Mit zur neuen Wissenschaftsskepsis trage bei, dass bei einer zunehmend aufwändigeren Forschung sich die Fortschritte nicht schneller, sondern im Vergleich zu früheren Durchbrüchen eher langsamer einstellen würden. Der Philosoph Hermann Lübbe, für Peter Meier in vielem wegweisend, sprach in diesem Zusammenhang vom abnehmenden «Grenznutzen» des wissenschaftlichen Fortschritts. Mit zur Wissenschaftsskepsis trage bei, wenn es in der Krebsforschung heute als grosser Erfolg gelte, falls eine neue Therapie bei 30% der Patientinnen und Patienten anspreche, was jedoch für die 70% der gescheiterten Fälle dann aber als schwacher Trost gelte. Dies bei Erwartungen in eine immer perfektere und natürlich auch immer teurere Spitzenmedizin.

Dabei erwies sich Peter Meier als Kritiker rein quantitativen Forschens, wo man oben Geld reinlässt und glaubt, unten kämen die Resultate heraus. Über alles Statistische hinaus identifizierte Prof. Peter Meier «einen Mangel an relevanten Forschungsfragen». Mit anderen Worten: Der Typus des kreativen Forschers in der Art von Einstein hätte nicht ausgedient, und es bleibe zu bedauern, dass nicht wenige wirklich begabte Medizinstudenten und Ärzte sich bei den heutigen Bedingungen nicht mehr der Forschung widmen wollten.

 

Geklonte Rattenleber

Wer sich über Peter Meiers Karriere als praktischer Arzt für Innere Medizin, Klinische Pharmakologie und Toxikologie etwas ins Bild gesetzt hat, weiss, dass er das Gegenteil eines Schreibtisch-Theoretikers war. Nach dem Medizinstudium in Fribourg und Basel leistete er im Zusammenhang mit seiner 1993 in Deutschland (Martini-Preis) ausgezeichneten Forschung zur molekularen Klonierung und Charakterisierung von Transportproteinen der Leber einen Forschungsbeitrag, der gemäss Würdigung durch das Universitätsspital Zürich «sowohl für den Stoffwechsel von Arzneimitteln, als auch für das Verständnis angeborener Störungen der Gallebildung von zentraler Bedeutung waren». In diesem Zusammenhang hat Peter Meier seinerzeit mit Erfolg eine Rattenleber geklont; womit das im Vergleich zu früher heute umstrittenere Thema der Tierversuche angesprochen ist. Darüber erlaubte ich mir einst im aargauischen Verfassungsrat (1976) einen Antrag zu stellen, der mit dem später in die Bundesverfassung eingegangenen Stichwort der «Würde der Kreatur» jedoch keineswegs auf ein Verbot hinauslaufen wollte.  

Aus medizinhistorischer Sicht macht mir bei Peter Meier-Abt das lebenslange Engagement für «personalisierte Medizin» Eindruck. Beim Vortrag vor Jahresfrist illustrierte er dasselbe am Beispiel von Dickdarm-Karzinomen. Hier würde ein Zusammenwirken der Forschung im genetischen, im molekularen und auch betreffend des «life-style» des Patienten viel bringen. Gestrenge Mahnungen des Gelehrten betrafen indes den Zeitfaktor: Zeit zum Denken, auch zum Falsifizieren (Kritisieren) von nicht ausgereiften Erkenntnissen lasse vielfach zu wünschen übrig angesichts von wachsendem Publikationsdruck und den bekannten Anforderungen von Politik und Gesellschaft.
   
Die bei Paracelsus vernehmliche Weisheit, der Arzt könne sich selber nicht helfen, gehörte mit zu den späten Erfahrungen des langjährigen Chefarztes der Klinik für klinische Pharmakologie und Toxikologie am Zürcher Universitätsspital (1984 – 2005), Mitgründer der Stiftung Toxinfo Suisse (bei Vergiftungsverdacht Tel. 145!).  

Peter Meier-Abt, zuletzt wohnhaft gewesen in Beckenried, hinterlässt eine Gattin und zwei Töchter. Als einer der wohl bedeutendsten Lengnauer der Geschichte ereilte ihn und seine Mitbürgerschaft das Ableben leider zu rasch, als dass ihn die Heimatgemeinde zum Beispiel zu seinem 75. Geburtstag noch mit dem hochverdienten Ehrenbürgerrecht hätte auszeichnen können.

 

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